INTERVIEW: Tomer Heymann
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gay.ch: Du machst wohl am liebsten Filme, die einen autobiografischen Hintergrund haben...
Tomer Heymann: Es sind Dokumentarfilme mit echten Protagonisten. Es ist nicht das gleiche, wenn Meryl Streep jemanden nachspielt. In meinen Filmen sind die Leute zu sehen, um deren Geschichten es auch geht.
Hat Ohad Naharin dir für die Umsetzung des Filmes freie Hand geboten oder wollte er mitreden?
Der Film entstand in einer Zeitspanne von acht Jahren. Das ist eine lange Zeit. Manchmal schaute er mich an und sagte, dass er gar nicht wisse, was ich da eigentlich mache. Er war oft sehr absorbiert mit seiner Arbeit, da hätte er gar keine Zeit gehabt für Details. Mit der Zeit ist eine Vertrauensbasis herangewachsen. Er hat mich einfach machen lassen. Ich habe ihm den Film gezeigt, als er ganz fertig war. Er war erstaunt und peinlich berührt. Lediglich bei ein paar Tanz-Szenen hat er kleine Änderungsvorschläge gehabt. Aber insgesamt war er mit dem Resultat sehr zufrieden. Er sagte mir bloss, dass es, wenn er den Film selber gedreht hätte, ganz anders herausgekommen wäre.
Du sprichst von Vertrauensbasis... Die scheint gut vorhanden gewesen zu sein, wenn man bedenkt, dass sogar alte und private Aufnahmen aus früheren Zeiten im Film zu sehen sind...
Das ist so. Er hat mir Einblick in Momentaufnahmen seiner Vergangenheit gegeben, auch solche, von deren Existenz er nicht mehr wusste, zum Beispiel, wenn er nackt Gitarre spielt. Aber auch der Tod seiner ersten Frau ist so wieder zum Thema geworden. Es war nicht leicht für ihn, diese Zeit wieder aufleben zu lassen. Seine erste Frau Mari Kajiwara war ein wichtiger Teil seines Lebens, sie war die Liebe seines Lebens... Es ist logisch, dass somit wieder alte Wunden aufgerissen werden. Man darf nicht vergessen, Ohad hat, als er den Film das erste Mal gesehen hat, quasi sein ganzes Leben nochmals Revue passieren lassen. So etwas geht tief unter die Haut.
Habt ihr auch darüber gesprochen, dass „Gaga“ auch für Lady Gaga steht?
Natürlich. Was viele nicht wissen werden, ist dass der Begriff „Gaga“ für Ohad Naharin schon längst gesetzt war, bevor Lady Gaga ins Rampenlicht getreten ist. Ohad hatte sich schon sehr früh einen Namen für seine Bewegungssprache gesucht. Er wusste von seiner Mutter, dass er als Kind sehr spät angefangen hat zu sprechen. Seine Eltern fieberten auf den Moment hin, dass er entweder Mama oder Papa sagen würde. Doch das war nicht der Fall. Seine ersten Worte waren „gaga“ und „kaka“. Er hat sich ernsthaft mit dem Gedanken auseinander gesetzt, ob „kaka“ passen würde. Aber da man damit auch etwas anderes in Verbindung setzt, dass stinkt, hat er die Idee schliesslich verworfen und damit blieb der Ausdruck „gaga“, der ausserdem in jeder Sprache ausgesprochen werden kann. Und zu Lady Gaga sagen wir immer wieder: Vielleicht kommt sie ja mal zur Tanzstunde (lacht).
Wie geht er damit um, wenn andere sein „gaga“-Tanzstil übernehmen möchten?
Grundsätzlich hat er nichts dagegen. Er weiss, dass auch er viele Stilrichtungen in seine Bewegungssprache hat einfliessen lassen, wie zum Beispiel Yoga. Jedoch weiss er auch, dass man „gaga" nicht einfach so umsetzen kann, weil es mehr als nur ein Tanz ist. Man muss „gaga“ als Ganzes verstehen und entsprechend umsetzen können. Ohad Naharin ist sehr selektiv, wenn es darum geht, wer Tanzlehrer(in) sein darf. Andererseits ist er aber auch sehr offen beim Umgang der Umsetzung von „gaga“. Es gibt zum Beispiel keine Vorgabe bei der Musik. Jeder Lehrer oder jede Lehrerin darf also die Musik laufen lassen, die ihm oder ihr gefällt.
Als Hetero scheint Ohad Naharin auch bei der sexuellen Ausrichtung keine Berührungsängste zu haben...
Obwohl er Frau und Kind hat, wird immer wieder gemunkelt, dass er auch mit Männern etwas haben könnte. Das liegt an seiner lockeren Art. Er kann einen Mann einfach so umarmen und küssen. Seine weibliche Seite hat den kompletten Freigang und er geniesst es auch, diese auszuleben, was sich wiederum auf seine Arbeit auswirkt. Wenn er zum Beispiel ein Tanz zwischen zwei Männern entwickelt, dann steht nicht im Raum, wer den männlichen und wer den weiblichen Part übernehmen soll, weil für ihn ja vom Grundsatz her beide Männer eh beides sind. Für ihn spielt es beim Tanz keine Rolle, was oder wer du bist: Schwul, Hetero, Lesbisch, Transsexuell, Weiss, Dunkel, Christ oder Muslim... Im Film wird das Thema Schwul lediglich mit einer sehr kritischen Zeit thematisiert, nämlich als Aids im Vormarsch war. Während dieser Zeit sind sehr viele Tänzer gestorben. Auch das hat seine Wunden hinterlassen. Auch auf dieser Ebene hat sich Ohad Naharin mit dem Tod auseinander setzen müssen... Doch er ist eine aussergewöhnliche Persönlichkeit, die über die Grenzen hinaus denkt und arbeitet. Ich wünsche mir, dass die Zuschauer von dieser Energie etwas für sich mitnehmen können.
Zum Film: Mr. Gaga
Mit seinen Choreografien reisst er Konventionen nieder, überschreitet Grenzen und gibt dem Körper neue Freiheiten: Die Rede ist von Ohad Naharin. Diese Doku wirft einen Blick über die Schultern des Israeli und zeigt jemanden, der nicht nur seine Tänzer zu Höchstleistungen bringt, sondern auch viel an die Bevölkerung zurück gibt.
Mr. Gaga heisst die Dokumentation, und dieser Titel kommt nicht von ungefähr, bezeichnet er selber doch seine moderne Interpretation des Tanzes ganz schlicht als "Gaga". Er schert sich einen Deut um die gängigen Traditionen, sondern, ihm ist es viel wichtiger, dem Körper neue Freiheiten zu schaffen.
Genre:
Dokumentation
Filmlänge:
99min
Regie:
Tomer Heymann
Cast:
Ohad Naharin
Kinostart:
15.09.16