PORTRAIT: Ernst Ostertag und sein Geschenk an die Community

PORTRAIT: Ernst Ostertag und sein Geschenk an die Community
Seit über einem Jahr hat Corona die Schweiz fest im Griff. Dies bedeutet für alle von uns grosse Einschränkungen, insbesondere auch für Risikopersonen. Wie erlebt Ernst Ostertag diese Zeit, wie geht es mit seinem Lebenswerk schwulengeschichte.ch weiter, und wie sieht sein Engagement für die Ehe für alle aus? gay.ch hat nachgefragt...

2020 war ein aussergewöhnliches Jahr, und zwar in jeder Hinsicht, und zumindest in der ersten Hälfte von 2021 dürfte sich daran nicht viel ändern. Die meisten von uns sahen sich mit einschneidenden Veränderungen konfrontiert, auch Ernst Ostertag. Quasi unter "Hausarrest" gestellt, wurde es ihm aber trotzdem nie langweilig, wie er betont. Für gay.ch erzählt er von seinem Alltag, darüber, wie er mit Social Distancing umgeht, aber auch von schwulengeschichte.ch, seinem Herzensprojekt, welches vor bald 12 Jahren online ging.

Zuerst eine Frage, welche kaum je wichtiger war: Wie geht es Dir?
Danke, es geht mir in jeder Beziehung sehr gut, abgesehen von den Beschwerden, die man mit 91 natürlich hat. Zu klönen lohnt sich aber nie. Es bringt nichts zum Verschwinden und verbraucht nur Kraft und Zeit. Beides kann besser genutzt werden.

Wie hast Du das in jeder Hinsicht besondere Jahr 2020 erlebt?
Die meiste Zeit verbrachte ich im "Hausarrest". Denn Giovanni verordnete es so. Einmal pro Woche kam er vorbei und besorgte die Einkäufe und an jedem Wochenende fuhren wir hinaus in die freie Natur, meist ins Toggenburg-Appenzellerland oder zum Seerücken im Thurgau, wo wir etwas "wanderten", dh ich war an zwei Walking-sticks mit Giovanni ein paar Stunden lang auf meist einsamen Wanderrouten unterwegs. Immer, wenn es das Wetter erlaubte, war ein reiches Picknick im Freien mit dabei, dies ganz bürgerlich mit Tisch, Klappstühlen, Gasherd für Spiegeleier etc. und, wenn nötig, mit Sonnendach. Frische Luft und herrliche Aussicht waren garantiert, bei Sommerwärme zogen wir ins Waldesinnere. Zur Siesta, wenn die Mittagssonne brannte und wir die Stunde Pans geniessen wollten, bot sich ein Verkriechen ins Innere des Minivans an, das Giovanni zum Schlafzimmer umgewandelt hatte. 

Giovanni war die letzten fünfzehn Jahre der Dritte im Bund von uns, Röbi und mir. Seit Röbis Tod sind wir zu zweit in einer neuen Lebensrealität. Und Röbi wohnt weiter in unseren Herzen. Dort wird er bleiben, bis sie zu schlagen aufhören.

Zu Hause hatte ich immer viel zu tun. Noch putze ich die Wohnung selbst. (Fitness-Training, gratis, und am Schluss ein sauberes Heim!) Fast täglich sass ich am Laptop und führte die Korrespondenz, oder arbeitete an der Website schwulengeschichte.ch. Daneben las ich den Stapel Bücher runter, der sich angesammelt hatte, und hörte viel Musik. Ich tat also, was viele andere auch taten in den Lockdown Monaten. Langweilig wurde mir nie. Trotzdem vermisste ich Theater, Oper, Konzertsaal und die Gespräche mit Freunden wohl genauso wie alle.

Wie gehst Du mit der aktuellen Situation, mit dem Lockdown und Social Distancing um?
Ich habe keine Probleme. Social Distancing kenne ich von Japan und Indien, wo man kaum je die Hand gibt noch einander umarmt und küsst, sondern sich still verneigt oder die zusammengelegten Handflächen vor die Brust hält und dazu "Namasde" sagt, was heisst "Ich grüsse die Gottheit in dir". Ich empfinde diese Formen der Begegnung ästhetischer und hygienischer, verglichen mit dem, was in Europa Sitte ist. 
Den Lockdown hingegen, und alle Folgen der Pandemie erfüllen mich mit grösster Sorge, weil ich aus Kindheitserfahrungen im Krieg genau weiss, was Einschränkungen, Unsicherheit, Existenzängste und das Wegbrechen von Perspektiven mit den Menschen macht. 
Mir persönlich, als Rentner und altem Mann ohne grosse Beschwerden macht der Lockdown nichts - ausser mit Freunden nicht Zusammensein können. Natürlich sehne ich die Zeit des Öffnens herbei und hoffe fest auf die Wirkung der Impfungen.

Im Januar wurde endlich auch im Kanton Zürich mit dem Impfen begonnen: Konntest Du bereits einen der noch raren Termine ergattern?
Ja, das gelang am 8. März beim Hausarzt und die zweite Impfung soll am 6. April erfolgen. Aber Freiheit und Normalität wird erst dann möglich werden, wenn die grosse Mehrheit alle Impfungen hinter sich hat. Und dann liegt viel Arbeit vor uns. Es wird Geschick, Mut, Ausdauer und Bereitschaft zu Neuem gefordert sein.

Neben den schwierigen Zeiten rund um Covid-19 bot das Jahr 2020 mit der Ehe für alle auch ein Highlight: Wie hast Du den politischen Prozess erlebt, und wirst Du dich auch wieder im - wahrscheinlich - nötigen Abstimmungskampf engagieren?
Eigentlich müsste ich still sein. Alle Jungen können das doch besser. Ich will nicht zu jenen Alten gehören, die nicht loslassen und sich zurückziehen können. Klar freute ich mich über unseren Abstimmungssieg am 9. Februar 2020 und hoffe, dass der beschlossene Diskriminierungsschutz auch durchgesetzt wird. Wir wussten, die erreichten 63% Ja sind der beste Vorlauf für die Ehe für alle. Wenn es zur Abstimmung kommt, dann haben unsere Gegner einmal mehr die ganz grosse, landesweite Bühne zur Propagierung unserer Anliegen aufgebaut. Und wie gern wir diese Bühne nutzen wollen! Sollte ich zu einem Beitrag aufgefordert werden, dann mache ich das mit Freude. Natürlich wird uns dieser Kampf eine grosse Stange Geld kosten, einmal mehr und nun erst recht. Bereits habe ich ein nettes Sümmchen bereitgestellt, denn daran darf es nicht fehlen – und dazu sind wir Alten besonders gefordert.

Vor bald 12 Jahren wurde die Website schwulengeschichte.ch aufgeschaltet, und seither baust Du die Website unermüdlich aus: Wie hat sie sich seither entwickelt?
Es gab Engpässe, das will ich nicht verschweigen. Aber es gelang, einen Verein zu gründen, dessen Mitglieder hinter der Website stehen. Und ich hoffe fest, dass sie zahlreicher werden mögen! Vor allem wichtig ist das Redaktionsteam, das sich bildete und heute von einem jungen kompetenten Chef geführt wird. 
Ich arbeitete aber nie allein. Im Anfang waren wir zwei, Röbi und ich. Dann kamen andere dazu, ohne die das ursprüngliche Buchprojekt nie zur Website geworden wäre. Wir beide verstanden nichts davon. Einer Website konnten neue Rubriken beigefügt werden, etwa nebst der eigentlichen Schwulengeschichte die Sammlung von Biografien, die Erneuerung und Vernetzung der Zeittafeln mit den dazugehörenden Texten, die Vernetzungen überhaupt. Und fast jede Erweiterung brachte neue Persönlichkeiten ins Team mit eigenen Vorstellungen, Erfahrungen, Stärken. Sie stellten vorübergehend ihre Zeit und freiwillige Arbeit zur Verfügung und ermöglichten, förderten das Weiterleben der Website. 
Das muss ein dauernder Prozess sein. So gelang es, die Anzahl von ca. 4000 Besuchern/Usern pro Monat zu halten. Die Nutzung der Website ist gratis. Ebenso kann jede/jeder den monatlichen Newsletter gratis abonnieren. Seine Nummer 135 ist im März erschienen. Im Newsletter werden Neuerungen angezeigt und erklärt - und regelmässig wird auf eine Persönlichkeit oder ein Ereignis in der Schwulengeschichte mit neuen Details eingegangen, natürlich Website-verlinkt. Auch die reiche Illustrierung wurde und wird laufend erweitert. 

Welches sind deine kommenden Projekte diesbezüglich? Wie geht es mit schwulengeschichte.ch weiter?
Irgendwann werde ich ausfallen. Das Boot ist seetüchtig geworden und es sind etliche erfahrene und kompetente Persönlichkeiten vorhanden, um es weiterfahren zu lassen. 
Ich betrachte es als mein Geschenk und Vermächtnis an die Community. Daher hoffe ich, es sollten sich möglichst viele der Wichtigkeit ihrer eigenen Geschichte bewusst werden und dieses Werk unterstützen als Vereinsmitglieder oder aktive Mitarbeiter. Denn wer als Minderheit seine Geschichte nicht kennt, ist blind für die Entwicklung der Gesellschaft und muss schlimmstenfalls seine Geschichte wiederholen. Dorthin zurück will jedoch bestimmt keiner von uns!

Herzlichen Dank für das Interview, Ernst!

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Bild: © Raphael Hadad (2020)