PORTRAIT: Viktor Pylypenko kämpft an der Front in der Ukraine

PORTRAIT: Viktor Pylypenko kämpft an der Front in der Ukraine
Viktor Pylypenko ist eigentlich Kriegsveteran, doch wie bereits nach der Annexion der Krim, so kämpft er auch heute wieder in der Ukraine an der Front gegen den russischen Angreifer. Im Jahr 2019 hat der 35-Jährige sich als erster Soldat der Ukraine als schwul geoutet, und damals stand er auch gay.ch in einem ausführlichen Interview Red und Antwort...

Während der Euromaidan-Protesten war Viktor Pylypenko mit von der Partie. Er kämpfte während dieser Revolution der Würde für seine Heimat und für eine Annäherung an Europa. Ausgebrochen waren die Bürgerproteste damals im November 2013, als die damalige Regierung überraschend angekündigt hat, dass sie das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union vorerst nicht unterzeichnen wolle. Hunderttausende gingen auf die Strasse um ihren Unmut gegenüber der Regierung kundzutun. Die Proteste endeten schliesslich im Februar 2014 blutig. Der damalige Präsident Wiktor Janukowytsch setzte sich ins Ausland ab, und Oleksandr Turtschynows wurde zum Übergangspräsidenten gewählt. Kurz danach begann die russische Annexion der Krim und die Destabilisierung des Landes nahm ihren Lauf und gipfelte in einem bewaffneten Konflikt in zwei östlichen Oblasten der Ukraine

Auch während diesen kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ostukraine war Viktor Pylypenko dabei. Er kämpfte an der Front für sein Land, war Mitglied bei Donbas, einem freiwilligen Bataillon, er bediente die Granatwerfer und war auch bei den Sanitätern. Darauf wurde der heute 35-Jährige Kriegsveteran, arbeitete als Übersetzer und als Drehbuch-Supervisor bei einer Filmproduktionsfirma und lebt in Kiew. Als erster Soldat der ukrainischen Armee hatte er sein Coming out, und seiher kämpft er für die Akzeptanz und die Sichtbarkeit der LGBTI+ Community in der Ukraine.

Durch den Angriff Russlands auf seine Heimat sah sich Viktor Pylypenko nun gezwungen, wieder ins Militär einzutreten und an der Seite seiner Landsleute zu kämpfen. 


Auszüge aus dem Interview aus dem Jahr 2019, als sich Viktor Pylypenko mit gay.ch über sein Coming out unterhielt, und darüber wie die Situation damals in der Ukraine für die LGBTI+ Community war:

gay.ch: Du warst der erste, offen schwule Soldat im ukrainischen Militär: Wann hast Du Dich für ein Coming out entschieden?
Viktor Pylypenko: Es geschah alles im Rahmen einer Fotoausstellung unter dem Titel „Wir sind hier“ von Anton Shebetko, einem professionellen Fotograf und Künstler. Ich habe ihm erlaubt, mich zu fotografieren, aber damals habe ich mein Gesicht noch versteckt. Als die Vorbereitungen für die Ausstellung immer weiter fortschritten, habe ich mich plötzlich entschieden, dass es nun eigentlich der richtige Zeitpunkt wäre, mein Gesicht zu zeigen und mich als schwul öffentlich zu outen. Ich habe mich entschieden, dass die Menschen mein Gesicht, meinen Namen und meine Geschichte kennenlernen und erfahren sollen, dass Schwule für die Freiheit aller an der Front kämpfen, und dass wir einfach nur Menschen wie alle anderen sind.

Was hat sich seit deinem Coming Out verändert? Wie fielen die Reaktionen von deinen Kameraden aus?
Es war alles andere als eine einfache Entscheidung, und es gab von den verschiedensten Leuten ganz unterschiedliche Meinungen dem gegenüber. Doch jene, welche mich wirklich gut kannten, welche mit mir an der Front Seite an Seite gekämpft haben, die unterstützten und akzeptierten mich. Sie schrieben alle unterstützende Kommentare unter meinen Coming out-Post. Es gab ein paar ältere Männer, sowie einer, der sehr religiös ist, welche schrieben, dass sie mich als Kämpfer zwar respektieren, aber nichts über meine Orientierung wissen wollen, denn dies sei nicht angebracht.

Und deine Familie?

Meine Mutter wiederum fand es okay, meine Schwester wusste es eh schon lange, doch mein Vater kann es noch immer nicht akzeptieren und ignoriert das Thema ganz einfach.

Was hat sich mit deinem Coming out vereinfacht, was wurde schwieriger?
Eigentlich wurde alles für mich viel einfacher. Ich kann mich nun anziehen wie ich will, ich kann mein Haar blond bleichen, und dann, wie gerade jetzt, rot färben. Ich kann mich offen mit anderen Schwulen treffen. Ich muss mich auch nicht mehr verstecken oder auf den Mund sitzen, wenn jemand versucht sich vor mir über Gays lustig zu machen oder sie zu verurteilen. Nun kann ich ihnen einfach direkt ins Gesicht sagen, dass ich schwul bin und dass sie ruhig sein und mich und alle anderen LGBTI+ respektieren sollen – dies hilft meistens sofort :)

Wenn Du zurückblickst: Bist Du glücklich, dass Du dein Coming out gewagt hast, und würdest Du es wieder tun?
Ja, ich fühle mich nun viel besser, da ich damit auch den Frieden mit mir selber gefunden habe. Ich muss mich nicht mehr anlügen, und auch niemand anderes mehr. Dies ist ein sehr wertvolles Gefühl. Auch habe ich nun das Gefühl, dass ich jeden Tag einen wichtigen Beitrag leiste, indem ich mich selber als schwul bei meinem Umfeld vorstelle und ihnen damit helfe, ihre Einstellung zu ändern. Es fiel mir auf, dass die wenigsten Leute einen Verwandten, einen Freund oder auch nur einen Bekannten haben, der zu seiner sexuellen Orientierung steht. Sie schauen uns immer als etwas unanständiges und unmoralisches an. Wenn man ihnen dann aber sagt, dass man selber schwul ist, dann sind sie für gewöhnlich sehr freundlich und wirken überrascht. Ich kann dann richtig sehen, wie sich die Welt für sie verändert, wie sie sich von ihren Vorurteilen lösen, wie sie inklusiver denken und sich für etwas anderes, neues öffnen. Ich kann dadurch richtig spüren, wie ich mein gesellschaftliches Umfeld toleranter, freundlicher und demokratischer machen kann, wenn ich ihnen von der Gleichstellung aller Menschen erzähle, oder vom Kampf für die Freiheit für unser Land, und dass jeder Bürger ein Soldat werden kann. Somit habe ich fast jeden Tag ein neues Coming out, denn die meisten Menschen, mit denen ich im Alltag spreche, kennen meine Geschichte nicht, und sobald sich unser Gespräch um die Akzeptanz gegenüber der LGBTI+ Community dreht, dann erzähle ich den Leuten, dass ich schwul bin.

Trotzdem, Homophobie ist in der Ukraine weit verbreitet: Wie würdest Du die Situation beschreiben?
Die junge Generation ist absolut okay mit dem Thema Homosexualität, aber die Älteren, welche noch in der damaligen Sowjetunion aufgewachsen sind, können uns nicht akzeptieren. Das gleiche gilt für Anhänger von radikalen oder religiösen Bewegungen. Es fällt mir auch schwer einen gemeinsamen Nenner mit jenen zu finden, welche die Werte von Putins modernem Russland unterstützen. Diese akzeptieren mich meist nicht als Schwuler, da die russisch-orthodoxe Kirche ihnen eintrichtert, dass es eine tödliche Sünde sei. Sie hassen mich zudem, weil ich am Krieg gegen die russischen Besetzer und Kollaborateure teilgenommen habe. Eine Kollegin, eine Frau in ihren Fünfzigern, beispielsweise hat mich immer verurteilt, weil ich an den Protesten auf dem Maidan, unserer Revolution der Würde, teilgenommen, und weil ich unser Land verteidigt habe. Sie war plötzlich ganz froh, dass ich schwul bin, da sie doch selber äusserst homophob ist. Ich habe dann mit ihr aber mal ein sehr ernstes Wort geredet und ihr ins Gesicht gesagt, dass ich schwul bin und dass sie aufhören solle, schlecht über mich zu reden, und dass all meine Kollegen auf meiner Seite sind, und seither hat es sich sehr gebessert.

Wie muss ich mir die LGBTI+ Community in der Ukraine vorstellen? Ist alles ganz versteckt oder gibt es auch Gay Clubs und Bars, etwa in Städten wie Kiew?
Es gibt verschiedenste gay-friendly Orte in Kiew, sowie einen Gay Club mit dem Namen Lift. Gay Cruising Bars und Gay Saunas gibt es auch. Es gibt aber auch moderne Orte für Kunst und zum Tanzen, wie das Closer und das Otel’, oder Technoparties wie die Schema, wo sich LGBTI+ treffen, sich offen küssen und sich selber sein können. Es gibt auch politisch gewisse, positiven Anzeichen: Ein Anti-Gay-Propagandagesetz nach russischem Vorbild ist erst mal vom Tisch, und Pride-Events werden immer populärer – wie beurteilst Du diese Entwicklung? Die Zivilgesellschaft, welche während der Zeit der Maidan Demonstrationen gewachsen ist, leistet ihre Arbeit. Immer mehr Menschen, welche sich um soziale Anliegen kümmern, Aktivisten sowie Leute mit starken Prinzipien und gesellschaftlich offener Haltung, beginnen gegen Ignoranz und veraltete Strukturen zu kämpfen. Dies ist sehr wichtig, denn unser Land befindet sich im Wandel, doch es gibt noch viel zu tun, dass die Ukraine freier und europäischer wird.

Wie sah dein eigenes Engagement diesbezüglich aus?
Nach meinem Coming out habe ich mich entschieden, eine geschlossene Gruppe mit dem Namen Ukrainische LGBT Soldaten und ihre Unterstützer zu gründen, wo sich schwule, lesbische und transgender Militärs, aber auch ihre heterosexuellen Unterstützer miteinander verknüpfen, um den Leuten zu zeigen, dass ich längst nicht der einzige bin. Ich versuche gerade den Männern auch zu erklären, dass sie in Würde leben sollen und will ihnen anhand meines Beispiels zeigen, dass ein Coming out als schwuler Soldat die Gesellschaft tatsächlich zum besseren verändern kann.

Wenn Du an deine Zukunft als schwuler Mann in der Ukraine denkst, wo siehst Du dich? Wirst Du in Kiew bleiben und was denkst Du, wie wird die Zukunft für LGBTI+ in der Ukraine, auch hinsichtlich der rechtlichen Situation?
Ja, ich möchte nirgendwo anders hin, denn ich mag die Stadt in der ich lebe. Ich liebe mein Land, auch wenn es derzeit gerade sehr arm ist. Die Ukraine ist aber sehr reich an Kultur und an Naturschätzen. Ich habe für das Land gekämpft, für die Leute, und somit möchte ich auch hier bleiben. Ich möchte zudem meinen zukünftigen Mann an meiner Seite heiraten und hier auch Kinder haben.