HISTORY: Vor zwei Jahren legalisierte Indien gleichgeschlechtliche Aktivitäten

HISTORY: Vor zwei Jahren legalisierte Indien gleichgeschlechtliche Aktivitäten
Noch nie in der Geschichte waren so viele Schwule, Lesben und Transgender von einem Gerichtsurteil betroffen, wie anfangs September 2018, als das Oberste Gericht Indiens den gleichgeschlechtlichen Sex endlich legalisiert hat. Rund 1.34 Milliarden Menschen, davon geschätzte 78 Millionen LGBTs, lebten fortan in einem Land, welches Homosexualität nicht mehr kriminalisiert. Folgend eine Chronik über die Geschichte der weltweit heute noch weitverbreiteten Section 377 am Beispiel Indien...

Das British Empire war das mächtigste Kolonialreich der Geschichte. Zur Zeit seiner grössten Ausdehnung 1922 umfasste es 458 Millionen Menschen, was damals rund ein Viertel der Weltbevölkerung darstellte. Auch die Fläche machte rund einen Viertel der weltweiten Landfläche aus. Dass auch im British Empire die Sonne nie unterging versteht sich daher von selbst, hatten sich die Briten doch von zahlreichen Südseeinseln über Kanada, Teile der USA, einigen afrikanischen Ländereien, Pakistan, Indien, Länder in Südostasien bis hin zu Australien und Neuseeland einverleibt – jene Staaten, welche sich noch heute mehrheitlich unter dem Commonwealth of Nations zusammenschliessen. Mit der geografischen Expansion, transportierten die Engländer aber auch ihr Rechtssystem in die Welt, und damit die so genannte Section 377 des Strafgesetzes, welche widernatürlichen Sex unter Strafe stellte, womit jeweils auch gleichgeschlechtlicher Sex gemeint ist. 


Auch wenn einige Staaten des damaligen Empire, wie unter anderem Kanada, die USA, natürlich Grossbritannien selber, aber auch Australien, Südafrika und Neuseeland die Section 377 längst abgeschafft haben und die Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen mit heterosexuellen Paaren entweder bereits umgesetzt haben, oder zumindest daran arbeiten, so hält sich die Section 377 – oder Abwandlungen und Anpassungen davon - in der Mehrheit der ehemaligen Kolonien noch immer hartnäckig. In 36 der 53 souveränen Commonwealth-Staaten ist der gleichgeschlechtliche Sex nämlich nach wie vor verboten. So kennen Staaten wie Singapur, Malaysia, Pakistan, Malediven und Jamaika noch immer die Section 377 wie anno dazumal, und andere Staaten, wie Sri Lanka, Kenia, Nigeria, Uganda, Samoa, Mauritius oder Botswana kennen Gesetze, welchen die Section 377 als Vorbild galt.  Dabei sind jedoch in den meisten Ländern teils absurde Interpretationen davon in Kraft, etwa, dass Homosexualität an sich legal ist, und nur der gleichgeschlechtliche Sexualakt unter Strafe steht. Dies bedeutet, dass es in gewissen Staaten, wie etwa in Singapur, Gay Bars und Parties, Pride-Veranstaltungen und Filmfestivals gibt, obwohl der gleichgeschlechtliche Sex eigentlich verboten ist. Die britische Regierung, bereits unter David Cameron, aber noch verstärkt unter Theresa May, hat deshalb auch begonnen, sich für die Entkriminalisierung von Homosexualität in seinen ehemaligen Kolonien einzusetzen.

Auch Indien kannte noch bis zum 6. September 2018 die Section 377, welche gleichgeschlechtlichen Sex unter Strafe stellte. Obwohl Homosexualität in Indien nach wie vor ein grosses Tabu ist, stieg der Druck von der LGBT-Community ausgehend stetig an, damit gleichgeschlechtlicher Sex legalisiert wird. In immer mehr Städten gab es Pride-Veranstaltungen, und die Teilnehmerzahlen wuchsen von Jahr zu Jahr teilweise rasant an. Doch trotzdem: Im Gegensatz etwa zu Singapur, wurde die Section 377 in Indien nach wie vor tatsächlich angewandt, und nicht selten wurden auch Personen der LGBT-Community damit durch Beamte erpresst. Laut dem Innenministerium wurden alleine im Jahr 2014 600 Personen aufgrund dieses Gesetzes verurteilt. 2015 waren es gemäss dem Büro für Kriminalstatistik mit 1491 Personen sogar fast 2.5 Mal so viele, darunter 207 Minderjährige und 16 Frauen. Das Thema war damals vermehrt in den Medien, etwa durch Pride-Veranstaltungen oder auch durch Gerichtsprozesse, wodurch gewisse Bevölkerungskreise begannen, LGBTs zu erpressen und zwangszuouten.



Noch im Jahr 2012 übermittelte die indische Regierung an das Supreme Court, dass es in Indien rund 2.5 Millionen LGBTs gibt. Dies ist aber nur die Zahl jener, welche beim Innenministerium gemeldet sind. Andere Statistiken gehen hingegen von rund 78 Millionen Schwulen, Lesben und Transgender aus. Diese Zahl ist viel realistischer, wenn man bedenkt, dass Indien heute 1.34 Milliarden Menschen zählt.

Die schwullesbische Ehe wird in Indien nicht anerkannt, und kurz nach der Legalisierung von gleichgeschlechtlichem Sex durch das Supreme Court vor wenigen Wochen, liess die Regierung auch verlauten, dass man mit der Entkriminalisierung von Homosexualität zwar einverstanden sei, sich aber gegen weitere Forderungen wie Marriage Equality zur Wehr setzen werde. Der Support diesbezüglich nahm aber in der indischen Bevölkerung in den vergangenen Jahren stetig zu. Zuletzt erklärten 2017 rund 58 Prozent in einer von ILGA durchgeführten Umfrage, dass sie Schwulen, Lesben und Transgender die selben Rechte zugestehen würden, wie Heterosexuellen. Nur 30 Prozent zeigten sich nicht damit einverstanden. Frägt man jedoch direkt nach der Öffnung der Ehe, dann ist die Ablehnung nach wie vor sehr hoch: Laut der  International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association waren im Jahr 2016 35 Prozent für Marriage Equality, 35 Prozent dagegen und 30 Prozent hatten sich noch keine Meinung gebildet.

Rein gesetzlich ist es aber alles andere als klar, wie ein Gericht allenfalls über die Öffnung der Ehe entscheiden würde. Jeder indische Bürger hat das Recht, sich für eines von fünf Zivilgesetzbüchern zu entscheiden. Dabei geht es um die Zugehörigkeit betreffend der Religion oder der Gemeinschaften. Durch die fünf verschiedenen Gesetzestexte wird die Lage recht kompliziert, doch es steht fest, dass keines der indischen Ehegesetze die Ehe als explizite Verbindung zwischen Mann und Frau definiert, und auch ein Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe steht nirgends niedergeschrieben. Da die Gesetze jedoch Heterosexualität untermauern, wurde es bislang so interpretiert, dass gleichgeschlechtliche Paare nicht anerkannt werden. Einzig der Bundesstaat Goa kennt nur ein Ehegesetz, dem jeder und jede unterstellt ist, egal wessen Gemeinschaft oder Religion jemand angehört. In diesem Eherecht ist die Ehe dann auch als Verbindung zwischen Personen des gegenteiligen Geschlechts definiert.  Im Jahr 2017 wurde schliesslich ein einheitliches Zivilgesetz für das ganze Land und für alle Religionen versprochen, welches dann sogar die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare vorsehen würde. Bis es allerdings soweit sein wird, dürfte noch viel Wasser den Ganges runterfliessen.



Timeline Indien:

1533: Das englische Parlament führt den Buggery Act ein. Es war das erste nicht-kirchliche englische Gesetz, das Homosexualität, Analverkehr sowie Sodomie unter Todesstrafe stellte.

1828: Der Buggery Act 1533 wurde durch den Offences against the Person Act ersetzt. Das Strafmass blieb das selbe. John Pratt und John Smith waren die letzten beiden Männer, welche deswegen 1835 gehängt wurden.

1861: Der Offences against the Person Act wurde angepasst und das Strafmass wurde von der Todesstrafe in lebenslange Haft geändert.

1861: Die britische Kolonialmacht führt die Section 377 im indischen Strafgesetz ein und macht gleichgeschlechtlichen Sex damit illegal. Damit wurden die bis anhin geltenden, so genannten Fatawa-e-Alamgiri-Gesetze ersetzt, welche auf Zina (ungesetzlichen Geschlechtsverkehr) verschiedene Strafen vorsahen: 50 Peitschenhiebe für Sklaven, 100 Peitschenhiebe für Ungläubige und die Todesstrafe durch Steinigung für Muslime.

15.08.1947: Indien wird vom Vereinten Königreich unabhängig.

1967: Analverkehr zwischen Männern gilt in England und Wales nicht mehr als Verbrechen. In Schottland war dies erst 1981 und in Nordirland gar erst 1982 der Fall.

1987: Die nationale Presse berichtet von einer Hochzeit von zwei Polizistinnen in Indien. Seither ist es immer wieder zu gleichgeschlechtlichen Hochzeiten mit Hindu-Ritualen gekommen. Diese Hochzeiten, meistens zwischen Frauen, fanden jedoch in ländlichen Gebieten und fern von irgendwelchen LGBT-Bewegungen statt.  Die Familien reagieren teils unterstützend, teils aber auch mit Gewalt.  

1999: In Kalkutta findet die erste Pride in Indien statt.

12.2002: Die Naz Foundation bringt die Section 377 vor das Obergericht in New Delhi. Das Urteil wird erst fünfeinhalb Jahre später bekanntgegeben.

09.2006: Nobelpreisträger Amartya Sen, Schriftsteller Vikram Seth und andere indische Berühmtheiten fordern öffentlich, dass die Section 377 aus dem Strafgesetz gestrichen wird.

30.06.2008: Der indische Arbeitsminister Oscar Fernandes unterstützt die Forderung zur Entkriminalisierung von einvernehmlichem, gleichgeschlechtlichem Sex. Premierminister Manmohan Singh ruft zudem zu mehr Toleranz gegenüber Homosexuellen auf.

23.07.2008: Ein Richter des Obergerichts von Bombay erklärt, dass das Gesetz rund um unnatürlichen Sex neu beurteilt werden müsse.

29.07.2008: Erstmals finden Pride-Veranstaltungen in New Delhi, Bangalore, Indore und Pondicherry statt.

09.08.2008: Gesundheitsminister Anbumani Ramadoss stimmt mit ein und fordert die Abschaffung der Section 377. Später änderte er seine Ansichten aber wieder.

02.07.2009: Das Obergericht in New Delhi beurteilt die Section 377 als nicht verfassungsmässig und legalisiert gleichgeschlechtlichen Sex.

11.12.2013: Das Oberste Gericht Indiens hebt das Urteil des Obergerichts von New Delhi auf - die Richter hätten ihr Kompetenzen überschritten und nur der Gesetzgeber dürfe dies entscheiden. Gleichgeschlechtlicher Sex wurde wieder illegal. Das Urteil kam wohl auch durch den Einfluss von religiösen Führern zustande.

28.01.2014: Die Obersten Richter lehnen eine Petition ab, wonach die Petition 377 nochmals neu beurteilt werden soll. 

01./02.2014: Der Vorsitzende, sowie eine Sprecherin der Bharatiya Janata Partei erklären öffentlich, dass sie für die Entkriminalisierung von Homosexualität sind.

01.2015: Das Büro für Kriminalstatistik veröffentlicht eine erste Statistik: Demnach wurden zwischen Dezember 2013, als die Section 377 wieder in Kraft trat, und Oktober 2014, 778 Fälle von Verstössen gegen die Section 377 verzeichnet, dabei kam es zu 587 Verhaftungen.

18.12.2015: Shashi Tharoor, Mitglied des Nationalkongress, reicht eine Motion ein, mit welcher die Section 377 aufgehoben werden soll. Doch der Vorstoss wird abgelehnt. Viele Politiker stimmen dagegen, weil sie sich um die Gunst ihrer Wähler fürchten.

02.02.2016: Das Oberste Gericht gibt bekannt, dass es das Verbot von gleichgeschlechtlichem Sex doch beurteilen wird, wohl auch, weil es auf politischem Weg nicht vorwärts ging.

12.03.2016: Shashi Tharoor reicht mit dem Ziel der Abschaffung der Section 377 erneut eine Motion ein, welche aber wieder abgelehnt wird.

2017: Der Entwurf eines einheitlichen Zivilgesetzes für alle Inder, egal wessen Gemeinschaft oder Religion sie angehören, würde auch den Weg für Marriage Equality ebnen: Die Ehe wird darin als rechtliche Verbindung zwischen Mann und Frau, Mann und Mann, Frau und Frau, Transgender mit Transgender oder Transgender mit Mann oder Frau definiert.

24.08.2017: Das Oberste Gericht urteilt, dass die sexuelle Orientierung durch das Recht auf Privatsphäre geschützt ist. Damit erhält die LGBT-Community Indiens das Recht, ihre sexuelle Orientierung frei auszudrücken.

01.2018: Das Oberste Gericht akzeptiert eine Petition und willigt ein, dass es das Gerichtsurteil von 2013 nochmals begutachten wird.

05.02.2018: Das Oberste Gericht urteilt, dass niemand in eine Ehe eingreifen dürfe, welche einvernehmlich zwischen zwei Personen geschlossen wurde. Dies gilt für Behörden, aber auch für Personen. Die Richter verzichten dabei bewusst auf eine Definition der Ehe und sprechen von zwei Personen.

06.05.2018: Das Oberste Gericht entscheidet im Fall einer 20-jährigen Frau aus Kerala, deren Ehe annulliert wurde, dass sie selber entscheiden dürfe, mit wem sie zusammenleben wolle. Ein Paar bestehend aus erwachsenen Personen habe das Recht ohne Ehe zusammenleben zu dürfen. Damit wurden Konkubinatspaare erstmals rechtlich anerkannt, und die Richter haben wieder darauf verzichtet, diese Beziehungen als zwischen Mann und Frau zu definieren.

10.07.2018: Das Supreme Court unterstreicht einmal mehr die Rechte der LGBT-Community und deutet auch bereits an, dass es für eine Entkriminalisierung von gleichgeschlechtlichem Sex sein könnte. Die Richter erklären es nämlich zu einem Grundrecht, dass jede Person selber seinen Partner, oder seine Partnerin aussuchen dürfe.

06.09.2018: Das fünfköpfige Oberste Gericht entscheidet, dass die Section 377 ersatzlos gestrichen wird. Damit werden homosexuelle Sexualpraktiken legal. Das Gericht begründet die Entscheidung unter anderem mit dem Schutz der Privatsphäre. Das Urteil gilt jedoch nicht für die Provinzen Kashmir und Jammu, da dort das Ranbir-Strafgesetz gilt.