PORTRAIT: Zum 75. Todestag von Gertrude Stein, der Grande Dame des 20. Jahrhunderts

PORTRAIT: Zum 75. Todestag von Gertrude Stein, der Grande Dame des 20. Jahrhunderts
Wo Gertrude Stein lebte und arbeitete, waren auch die grössten Künstler ihrer Zeit nie fern: Maler wie Picasso, Matisse, Cézanne oder Gauguin, gingen in ihrem Salon ein und aus, ebenso wie junge Schriftsteller, darunter F. Scott Fitzgerald, T.S. Eliot und Ernest Hemingway. Die amerikanische Schriftstellerin, Verlegerin und Kunstsammlerin zog alle in ihren Bann – insbesondere auch ihre Lebensgefährtin Alice B. Toklas. Am 27. Juli vor 75 Jahren verstarb Gertrude Stein in Paris.

„Rose is a rose is a rose is a rose“ – mit solchen sprachlichen Experimenten, aber auch generell mit ihrem literarischen Schaffen, beeinflusste Gertrude Stein die Schriftsteller der damaligen Zeit. Zusammen mit Virginia Woolf gehört sie zu den ersten Frauen der klassischen, literarischen Moderne und ihr „Q.E.D.“, welches sie 1903 geschrieben, aber erst postum 1950 als „Things As They Are“ veröffentlicht wurde, zählt zu den ersten Coming Out-Stories überhaupt. Diese Geschichte weist zahlreiche, autobiografische Züge auf, basiert sie doch auf einer Dreiecksbeziehung, welche Gertrude Stein während ihrem Studium in Baltimore selber durchlebte. Sie war es wohl auch, welche das Wort „gay“ erstmals literarisch im Zusammenhang mit gleichgeschlechtlichen Beziehungen brauchte – und dies alleine in diesem Werk über hundert Mal. 



Im selben Jahr wie sie „Q.E.D.“ (Quod Erat Demonstrandum) schrieb, zog die gebürtige Amerikanerin mit ihrem Bruder, dem Kunstsammler und –kritiker Leo Stein, nach Paris. Dort lebten sie erst gemeinsam in ihrem berühmten und mit zeitgenössischer Kunst ausgestatteten Salon in der Rue de Fleurus 27, welcher sich schnell zu einem Zentrum der malerischen und schriftstellerischen Avantgarde entwickelte. Damals, im Gegensatz zu heute, noch eher unbekannte Maler wie Picasso, Cézanne, Matisse oder Gauguin, wie auch Schriftsteller von Hemingway über T.S. Eliot, Louis Bromfield bis hin zu Jean Cocteau, gaben sich hier die Klinke in die Hand. Schnell avancierte der Salon zum wichtigsten Treffpunkt der Pariser Künstlerszene.



Vier Jahre später trat Alice Babette Toklas in ihr Leben: Die Beiden wurden Freundinnen, verliebten sich ineinander und alsbald zog Toklas zu den Steins in den Salon. 1913 wurde es Leo Stein schliesslich zu bunt. Er wollte das Zusammenleben mit Alice B. Toklas nicht mehr tolerieren und zog aus. Zudem teilte er auch Gertrudes Vorliebe für den Kubismus nicht, der aus heutiger Sicht revolutionärsten Neuerung in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Mit der Trennung der Geschwister teilten sie auch ihre gemeinsame, und äusserst reichhaltige Kunstsammlung bestehend aus Werken von Picasso bis hin zu Matisse unter sich auf. Zu einer Versöhnung zwischen den Beiden kam es nicht mehr, und sämtliche Versöhnungsangebote liess Gertrude Stein unbeantwortet.



Gertrude Stein und Alice B. Toklas führten den Salon nun selber weiter, wobei sich laut Besuchern langsam eine feste Rollenverteilung etablierte. Die Herren scharten sich jeweils um Stein, während die Damen Toklas am Teetisch umringten. Die beiden Frauen waren auch sonst aktiv in der Pariser Kulturszene unterwegs. Sie besuchten Theater, Galerien und Konzerte und gingen auch gemeinsam auf Reisen. So erregten sie unter anderem auch grosses Aufsehen, als sie während dem Ersten Weltkrieg in einer Art Phantasieuniform mit ihrem Ford durch Frankreich fuhren, Lazarette besuchten und mithalfen Verpflegungsdepots einzurichten. Eine andere, wichtige Reise der Beiden war geschäftlicher Art: Vom Oktober 1934 bis in den Mai 1935 reisten sie während einer Vortragsreise quer durch die USA. Ihre Ankunft damals in New York City wurde gross gefeiert: Am berühmten Times Square wurde beispielweise mit einer grossen Lichttafel angekündigt: „Gertrude Stein Has Arrived.“ Dieser überschwengliche Empfang sollte sie während ihrer gesamten Reise begleiten, und so traf sie unter anderem auch auf Charlie Chaplin und wurde von der damaligen First Lady, Eleanor Roosevelt, im Weissen Haus zum Tee empfangen.



Zwischen ihren Reisen verbrachten sie ihre Zeit immer wieder in ihrem Salon in Paris um ihrer Vorliebe für Kultur zu frönen und sich mit ihren Freunden zu umgeben. Wenn sie gerade keinen Besuch hatten, schrieb Gertrude Stein jeweils bis weit in die Morgenstunden hinein an ihren eigenen Texten und Essays. Toklas glaubte an die literarische Kunst ihrer Lebenspartnerin und redigierte ihre Werke und schaute auch, dass sie entsprechend herausgegeben werden. Dazu zählt sicher Steins bekanntestes Werk „The Autobiography of Alice B. Toklas – Four Saints in Three Acts“, welches 1933 erschien und von ihren Freundschaften mit den Künstlern und anderen Autoren handelte. Im Buch ist eigentlich Toklas die Erzählerin, doch das Werk endet mit der Auflösung, dass Gertrude Stein alles geschrieben hat. Viele dieser Begegnungen, wovon sie in diesem Buch schrieb, fanden in ihrem Salon an der Rue de Fleurus  statt, und so traf es die beiden Frauen umso härter, als ihnen 1938 der Mietvertrag gekündigt wurde.  In der Rue Christine 5 fanden sie schliesslich ein neues Zuhause. 



Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs überraschte die Beiden, und sie befanden sich gerade in ihrem Landhaus in Belley, ein kleiner Ort im Rhone-Tal. Sie reisten mit gefälschten Pässen für zwei Tage nochmals zurück nach Paris um sich Winterkleider zu holen, doch ihre wertvolle Bildersammlung mussten sie zurücklassen. Sie konnten die Bilder nicht einmal mehr von den Wänden nehmen, um sie vor den Erschütterungen allfälliger Bomben zu schützen. Obwohl Gertrude Stein, wie auch Alice B. Toklas Jüdinnen waren, blieben sie von der deutschen Besatzung unbehelligt. Dies hatte nicht zuletzt mit dem Bürgermeister von Belley zu tun, welcher ihre Namen aus der Einwohnerliste streichen liess, welche an die deutsche Kommandantur übergeben werden musste. "Sie sind offensichtlich zu alt für das Leben in einem Konzentrationslager. Sie würden es nicht überstehen. Also weshalb sollte ich es den Deutschen sagen?", meinte er gegenüber den beiden Frauen. Von Picasso erfuhren sie schliesslich, dass ihre Wohnung an der Rue Christine besetzt wurde. Es war aber Bernard Faÿ zu verdanken, dass die wertvollen Bilder nicht von den Deutschen abtransportiert wurden. Möglicherweise hat er den deutschen Bürokraten vorgegaukelt, dass die Werke absolut wertlos seien. Nach Kriegsende wurde Bernard Faÿ aber als Kollaborateur behandelt und zu einer lebenslangen Haft verurteilt. Gertrude Stein setzte sich damals persönlich mit einem Brief für seine Freilassung ein. Einige Jahre später gelang ihm dann schliesslich die Flucht in die Schweiz – angeblich durch finanzielle Unterstützung von Toklas.



Am 1. September 1944 trafen die ersten amerikanischen Soldaten in jenem Teil Frankreichs ein, wo sich Gertrude Stein und Alice B. Toklas aufhielten. Der Einmarsch eben dieser Soldaten ermöglichte den Beiden schliesslich auch im Dezember eine Rückkehr nach Paris. Mit „Wars I Have Seen“ schrieb Stein darauf ihre dritte Biografie, und auf Einladung des Life Magazine besuchte sie amerikanische Stützpunkte in Deutschland, Belgien und Österreich.

Am 27. Juli 1946 starb Gertrude Stein im Alter von 72 Jahren an Magenkrebs. Viele Freunde, wie auch ihr Bruder Leo Stein, erfuhren erst aus der Zeitung von ihrem Tod. Begraben wurde sie auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris. Alice B. Toklas wurde als Erbin und zusammen mit Allen Stein, einem Sohn ihres ältesten Bruders Michael, als Nachlassverwalter eingesetzt. Sie kümmerten sich dabei vor allem auf ihren literarischen Nachlass und machten es sich zur Aufgabe, alle noch unveröffentlichten Texte und Manuskripte, darunter auch „Q.E.D.“ zu veröffentlichen. Alice B. Toklas verstarb schliesslich am 7. März 1967 und wurde wunschgemäss im selben Grab wie Gertrude Stein begraben. Ihr Name steht auf der Rückseite des Grabsteins geschrieben.