HINTERGRUND: Die Angst vor Verhaftungen geht in der arabischen Welt um
Bevor man das Haus verlässt, löscht man erst einmal verdächtige Chats und Bilder, und deinstalliert Apps wie Grindr, Facebook oder Whatsapp um der Polizei möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, falls man auf der Strasse durchsucht wird. Dies sei schon so etwas wie eine tägliche Routine geworden. Während das Internet früher als Heilsbringer gerade für LGBTI+ Communities in jenen Ländern angesehen wurde, in denen queere Menschen verfolgt und in die Illegalität gedrängt werden, so hat sich das Blatt mittlerweile gewendet. Das Internet und all seine Möglichkeiten sind inzwischen Fluch und Segen zugleich.
Die Staaten haben die Macht der Sozialen Medien und des Internets in Allgemeinen längst erkannt und die Überwachung drastisch verschärft. Dies hat auch Auswirkungen auf die LGBTI+ Community. Sehr stark ausgeprägt ist diese Form der Kontrolle und der Verfolgung in den Ländern der arabische Welt, vom Mittleren über den Nahen Osten bis nach Nordafrika und auf die arabische Halbinsel.
Fotos in einem Instagram Profil haben gereicht, damit die Polizei in Abu Dhabi einen 21-jährigen Libanesen vor Gericht zog. Aufgeflogen ist er, weil er von einem verdeckten Polizisten angeschrieben wurde und er sich ihm offenbarte. Ein Blogger in Saudi Arabien hat einen Post abgesetzt, in welchem er sich unterstützend gegenüber der LGBTI+ Community äusserte. Der aus dem Jemen ins Nachbarland geflohene Mann wurde zu zehn Monaten Haft verurteilt, und erhielt zudem Landesverweis.
Dies sind Beispiele von öffentlichen Posts, doch selbst private Chats oder Fotos können queeren Menschen in diesen Ländern zum Verhängnis werden, und so löschen viele Queers zuerst gewisse Apps, bevor sie einen Schritt vor die Türe machen. Afsaneh Rigot, eine Wissenschaftlerin der Harward Law School sowie die Organisation Article 19, hat dies untersucht und ihre Ergebnisse nun in einem Bericht veröffentlicht. So kam sie zum Schluss, dass der digitale Fussabdruck von queeren Menschen in der arabischen Welt immer mehr zur Gefahr werden kann.
Wie Rigot schreibt, hat sie sich für ihre Untersuchungen auf Ägypten, den Libanon und Tunesien konzentriert. Dabei gingen die Behörden nach ähnlichen Mustern vor. So kann das Vorhandensein gewisser Apps bereits zu einer Verhaftung führen, ebenso wie Bilder, welche als „unmännlich“ oder „verweichlicht“ angesehen werden. Doch selbst belanglose Chats und Dialoge in Nachrichten können manchmal bereits reichen, um ins Visier der Polizei zu geraten. Screenshots von solchen Nachrichten werden dabei vor Gericht als Beweise vorgeführt. Die Länder würden jeweils eine Mischung aus Gesetzen gegen LGBTI+ und in Bezug auf Cyberkriminalität anwenden, so Rigot weiter.
Die Behörden in Ägypten beispielsweise würden verdeckt in den bekannten Apps und auf Social Media-Plattformen ermitteln. Auf diese Weise locken sie auch queere Menschen in eine Falle um sie zu verhaften. Weiter werden bekannte Treffpunkte der Community direkt in Visier genommen, und es kommt verhältnismässig oft vor, dass Personen schon alleine aufgrund ihres Aussehens oder ihres Auftretens verhaftet werden. Einmal auf dem Polizeiposten angekommen, werden ebenfalls Handys nach den geringsten Verdachtsmomenten durchsucht. Ägypten gehe dabei am aggressivsten von allen untersuchten Staaten gegen die LGBTI+ Community vor, so Afsaneh Rigot.
In Tunesien und im Libanon hingegen durchsuchen die Behörden die Handys direkt und suchen nach den genannten Hinweisen, um die Personen ebenfalls zu verhaften und anzuklagen. Dabei werden die Telefone laut Rigot wie ein virtueller Tatort behandelt. Letzteres sei ein neuer Trend in diesen Ländern und besonders alarmierend. Queere Menschen hätten in diesen Ländern keine andere Wahl, als ihre wahre Persönlichkeit nun auch online zu verstecken.
Dass diese Länder derart strikt gegen die LGBTI+ Community vorgehen hat auch mit der aktuellen Situation zu tun: Tunesien befindet sich in einem politischen Umbruch, Libanon steht seit längerem an der Schwelle zu einem Kollaps des Finanzsystems und Ägypten hat seit dem arabischen Frühling die Grund- und Menschenrechte der Zivilbevölkerung massivst eingeschränkt. Dass es aufgrund der ungewissen Zukunft in diesen Ländern zu Reformen kommt, mit welchen auch die grundlegenden Rechte queerer Menschen anerkannt werden, ist daher eher unsicher.
Für ihren Bericht hat Afsaneh Rigot die Gerichtsunterlagen von 29 spezifischen Fällen aus den Jahren 2011 bis 2020 verarbeitet und zudem zahlreiche Opfer interviewt.