Unmasked: "Ich habe die Schokoladenseite von Corona erlebt..."

Durch den Tag als Visual Merchandiser tätig, und in der Nacht als Drag unterwegs, genau das ist Tristan aka Ennia Face: Wie er die fünf Wochen ohne Tagesjob verbracht und dann den ersten Kundenkontakt erlebt hat, und wie er sich gerade als Drag Queen nach der langen Zeit des Social Distancing das Nachtleben vorstellt, hat er gay.ch für Unmasked erzählt...

Kannst Du dich selber kurz vorstellen. 
Hi, mein Name ist Tristan und ich lebe und arbeite in Zürich. Ich bin als Visual Merchandiser bei einem Traditionsunternehmen in der Innenstadt angestellt. Ich wohne zusammen mit meinem Mann im Chreis 5 und an den Wochenenden bin ich öfters als selten mal in Drag unterwegs, als Ennia Face. 

Wie warst und bist Du von der aktuellen Lage selber betroffen? Wie gehst Du damit um?
Ich arbeite im Detailhandel, unsere Welt blieb am 17. März 2020 stehen. Ich war am 16. März noch als Letzter in unserem Deko Atelier, im Radio hatten wir gerade dem Bundesrat zugehört. Mir ging so einiges durch den Kopf, als ich alle Türen und Fenster schloss und das Licht ausmachte. Am darauffolgenden Tag wurden wir informiert, dass unsere Tore bis auf Weiteres geschlossen bleiben, was Kurzarbeit bedeutete, und dass wir dafür angemeldet würden. Ich kehrte also mit mulmigem Gefühl nach Hause zurück, wohl wissend, dass ich vermutlich erst in fünf Wochen wieder kommen werde. Schon auf der Rückfahrt wich meine Unsicherheit dem Bewusstsein, dass ich nun mindestens fünf Wochen für mich haben werde, und noch im Tram habe ich mich dazu entschlossen, dass ich die geschenkte Zeit möglichst sinnvoll nutzen möchte. Darf ich sie gar geniessen? Und daran Freude haben?

Wie hat sich dein Alltag verändert?
Ich kam schnell zu der Antwort, dass ich unbedingt daran Freude haben und das Beste daraus machen soll. In unserer gemütlichen Wohnung eingesperrt mit meinem Lieblingsmenschen, 20 Prozent weniger Lohn, für 100 Prozent weniger Leistung, ich bin gesund, und habe sogar genug WC-Papier daheim. Was für ein Arschloch wäre ich, mich über irgendetwas zu beklagen. Ich wollte nicht nach fünf Wochen zurückkehren und nichts zum erzählen haben. Doch wer mich kennt, weiss, wie oft ich mein Handy vor mir und nichts wirklich darauf zu erledigen habe. Die beste Eingebung kam mir zum Glück schon früh im Lockdown. Inspiriert durch meinen guten Freund Samuel aka Drag Queen Vicky Goldfinger, habe ich die Apps von Instagram und Facebook vom Phone gelöscht. Ich habe viel angefangene Projekte und unerledigte Arbeiten, die ich monatelang vor mich hin schob. Jetzt ist die Zeit, solche in Angriff zu nehmen. Das grösste Problem ist mein Drag-Zimmer, was im letzten halben Jahr so schlimm geworden ist, dass ich Besucher nicht mehr reinlassen wollte. Jetzt hatte ich Zeit jeden Ohrring, jedes Kleid, jede Titte und einen Riesen-Haufen geilen Scheiss, minuziös zu sortieren und in einer übersichtlichen Manier einzuräumen. Ich habe mir die Arbeiten in 90 Minuten Blöcke auf einem täglichen Stundenplan eingeteilt, immer nur soviel, dass es mir immer noch Spass macht. Diese Taktik half mir dabei, dass ich mich täglich darauf freute weiter zu machen, weil der Aufwand bisher einfach immer grösser und grösser wurde und bald als unbezwingbar schien. Ich habe auf dem Balkon unzählige Pflanzen umgetopft, ersetzt, gepflegt und zurückgeschnitten. Ich habe grössere und kleinere Reparaturen im Haushalt erledigt, neue Rezepte ausprobiert und endlich das überdimensionale Sofa auf Tutti verkauft! Das klingt jetzt alles sehr nach prahlen, aber diese Worte schreibt ein Mann, der sonst wochenweise zuhause Ferien macht und sich dabei zum Teil den ganzen Tag oder gar die ganze Woche vom Bett zum Kühlschrank, aufs Sofa und wieder ins Bett bewegt, ohne etwas zu erledigen. Mal ganz ehrlich: Ich erlebte die absolute Schokoladenseite von Corona, aber nicht falsch verstehen, ich möchte die Pandemie absolut nicht verharmlosen, doch ich bin sehr dankbar und glücklich über dieses einmalige Zeitgeschenk. Obendrein hab ich Insta und Facebook gar nicht all zu sehr vermisst und wenn ich abends am Laptop mal reingeschaut habe, gemerkt, dass ich auch nicht viel versäumt habe.

Nach der langen Zeit des Social Distancing hast Du nun seit den  Lockerungen wieder Kundenkontakt: Wie war für Dich der Start?
Ich war auch während dem Lockdown jeden Donnerstag im Geschäft, um die Pflanzen, die unsere Home & Living Abteilung schmücken, zu wässern. Das war freiwillig, denn ich wollte nicht, dass sie sterben und ich wohne vom Team am nächsten. Wir sind seit dem 21. April wieder am arbeiten und ich habe zugesehen, wie langsam wieder Leben zurück in die Stadt kehrt. Kunden und Mitarbeiter haben sich an die Hygiene-Vorschriften gewöhnt, und natürlich gibts immer wieder den Einen/die Eine, der/die es einfach nicht so ganz gecheckt haben, und die der Meinung sind, dass 20 Zentimer zwei Meter lang sind - ja, letzteres Phänomen betrifft nun nicht mehr nur Männer ;-) Höhö. Aber im Grossen und Ganzen sind die Leute sehr froh, dass sie wieder zu uns kommen können, oder überhaupt wieder etwas anderes sehen, als ihre eigenen vier Wände.

Deine Aktivitäten als Drag sind derzeit - gezwungenermassen - auch etwas in den Hintergrund gerückt: Wie überbrückst Du die Zeit und was fehlt Dir am meisten? 
Ganz ehrlich? Auch diese Auszeit habe ich genossen. Ich glaube nämlich, dass ich an diesem Hobby deswegen schon über fünf Jahre Freude habe, weil ich es nicht ständig mache. Und umso mehr freue ich mich wieder drauf, wenn ich das nächste mal in Drag unterhalten kann. Ich habe mir schon zwischendurch mal überlegt, ob ich zuhause etwas in Drag machen und mich so in den sozialen Medien zeigen soll, doch das war eher im Hinterkopf parkiert. Vor allem hatte ich auch keine zündende Idee, die mich selber aus dem Hocker gehauen hätte. Bloss irgendetwas zu teilen, um was geteilt zu haben, das war mir dann auch zu blöd. Dafür habe ich aber neue Inspirationen getankt, ein paar Outfits vervollständigt/ repariert/ aufgemotzt und freue mich, diese bald zu tragen. Mir sind durch Corona vier Bookings entgangen, das ist schon schade, aber da es sich um ein Hobby handelt, kam ich nicht in eine finanzielle Notlage. Viel schwieriger haben es da meine Kolleginnen und Kollegen in der Unterhaltungsindustrie, deren Tätigkeit nicht vom Bundesrat aufgezählt wurden, die aber von heute auf Morgen kein Engagement mehr hatten.

Wie wird es wohl sein, wenn Du erstmals wieder mit Partygästen agieren wirst? Mit welchen Gefühlen blickst Du auf die hoffentlich irgendwann wieder beginnende Partyzeit, da gerade dort das Abstandhalten schwierig wird... 
Ich freue mich schon sehr darauf, viele Freunde wieder zu sehen und ich frage mich sehr, wann Clubs wieder aufgehen werden und wieviel Sicherheitsauflagen dann noch zu erfüllen sind. Als Drag ist es mir ja manchmal ganz recht, wenn mir die Leute nicht zu nahe kommen, es könnte sich ja immer etwas verschieben, platzen, abfallen oder reissen... aber wie wird es für die Partygäste sein? Werden gelbe Tape Quadrate auf den Dancefloor geklebt, in denen man tanzen muss? Brauchen alle ein Gesichtsvisier an der Bar? Redest Du an eine Plexiglas Scheibe? Vielleicht erleben die Ganzkörperkondome aus „Die nackte Kanone" endlich ihren Durchbruch? Stürmen alle gleich am ersten Abend in die Clubs oder hat sich beim einen oder anderen gar das Verlangen nach Ausgehen verabschiedet?

Was wünschst Du dir von uns allen und was würdest Du uns gerne auf den Weg geben? 
Hierzulande konnte ein Kollaps des Gesundheitswesen abgewendet werden, weil wir es doch geschafft haben (fast) alle am gleichen Strick und in die selbe Richtung zu ziehen. Ist schon noch geil, oder? Auch wenn es oft von Vorteil ist, nicht immer mit dem Strom zu schwimmen, oder etwas kritisch zu hinterfragen, glaubt nicht jeden Scheiss, bloss weil ein oder zwei Argumente im ersten Augenblick überzeugend klingen. Wenn Hunderte und Tausende von Ärzten und Wissenschaftler etwas sagen, dann hat das schon was. Leute, schaut zueinander und aufeinander. Tragt euch selber Sorge und lasst nicht im vermeintlichen Endspurt auf einmal Leichtsinn walten. Es braucht nur einen Doofi, und das Ganze geht wieder von vorne los. Ich schaff es auch ohne, mein Drag Zimmer vollständig fertig zu stellen. Ich freu mich sehr, wenn wir uns im Nachtleben oder im sonnenverwöhnten Zürich bald wieder sehen.

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