FILM: Menschenskind!

FILM: Menschenskind!
Gerade in der aktuellen Debatte rund um die Ehe für alle gehört die Samenspende für lesbische Paare zu jenem Teil der Vorlage, der am kontroversesten diskutiert wird. Dort knüpft auch Marina Belobrovaja mit ihrem Film Menschenskind! an und thematisiert Rollenmuster und Konventionen rund um Elternschaft und Familie, und zwar in all ihren Facetten. gay.ch hat die Zürcherin zu ihrem sehr persönlichen Film befragt...

Marina Belobrovaja hat das gewagt, worüber zwar viele alleinstehende Frauen nachdenken, den Schritt aber schlussendlich doch nicht umsetzen. Sie hat einen radikalen Weg zur Mutterschaft gewählt und diese thematisiert sie nun auch in ihrem Film Menschenskind! Ausgehend von der Zeugungsgeschichte ihrer Tochter mit Hilfe eines Samenspenders, thematisiert sie die unterschiedlichsten Lebensrealitäten von Personen, welche sich ihren Kinderwunsch erfüllt haben.

Dabei geht es um die Haltung der Gesellschaft, aber ebenso um die Sicht der sogenannten Spenderkinder. Es geht um Vorurteile, gesetzliche Hürden, um Wunschvorstellungen und Widersprüche, doch schlussendlich um eine Wirklichkeit, wie sie auch längst in der Schweiz angekommen ist, obwohl die gegenwärtige Gesetzeslage hierzulande noch nicht so weit fortgeschritten ist.

Im Interview mit gay.ch erzählt Marina Belobrovaja, wie sie ihre Familie dazu gewinnen konnte, vor die Kamera zu stehen, welche Gespräche für sie am schwierigsten waren, und wie sie die aktuelle Debatte in der Schweiz rund um die Samenspende erlebt.

Wie hat deine Familie reagiert, als Du ihnen von deinem Filmprojekt erzählt hast? Es ist doch sehr privat und sie waren auch sehr involviert.
Über all die Jahre hat sich meine Familie sehr intensiv mit meiner künstlerischen Arbeit auseinandergesetzt. Als ich aus der Schweiz ausgewiesen werden sollte, haben sie meine Performance "Öffentliche Abschiebung" ebenso mitverfolgt wie einige Jahre später den Film "Warm-Glow", für den ich mit einer Reisegruppe aus der Schweiz in die atomverseuchte Zone von Tschernobyl reiste, aus der sie mich mit neun Jahren weggebracht haben. So war es von Beginn an klar, dass sie meine Entscheidung, ein Kind auf diese Weise zu bekommen, ebenso unterstützen, wie mein Bedürfnis, diesen Schritt filmisch in einen gesellschaftspolitischen Kontext zu stellen. Zugleich ist es mir sehr bewusst, dass ich ohne den Zuspruch meiner Eltern, ohne ihre Kritik, Reflexion und Engagement kaum in der Lage wäre, diesen Weg zu gehen. 


Wie bist Du an dieses Projekt herangegangen, da Du sehr viele verschiedene Facetten aufzeigst? 

Das Projekt hat ja nun sechs lange Jahre in Anspruch genommen. Die Auseinandersetzungen, die mit ihm einhergingen – sei es die schwierige und lange Finanzierung des Projektes, oder die an dem Film gescheiterten Beziehungen - waren Dinge, die nicht nur in meinem professionellen Alltag passierten, sondern mitten in meinem Leben. Zugleich hat mir der Film die Möglichkeit gegeben, meine individuelle Geschichte quasi stellvertretend für ganz viele andere Personen in vergleichbaren Situationen zu verhandeln. Auch die Relation des eigenen Lebensentwurfs zu denen der anderen Protagonist*innen des Films war für mich klärend und emanzipatorisch wertvoll.

War es schwierig, die Personen schliesslich auch vor die Kamera zu kriegen?
Abgesehen von einer Protagonistin, die kurz von dem Schnittschluss ihre Bildrechte zurückgezogen hat, was uns ein weiteres Arbeitsjahr beschert hat, – der sich im Nachhinein allerdings mehr als gelohnt hat – waren alle Beteiligten von Beginn an sehr engagiert und ähnlich an einer öffentlichen Aushandlung ihrer Familien- und Rollenmodelle interessiert wie ich. 


Wie waren für Dich die Arbeiten am Film, weil doch auch viele harte Worte und Kritik fallen?
Verdammt aufreibend und immer wieder erhellend! Sie haben mir die Möglichkeit gegeben, mich den Konflikten, die mit diesem Elternschaftsmodell einhergehen, gleich beim Antritt in meine neue Rolle als Mutter zu stellen. Heute, acht Jahre später, spüre ich einen tragfähigen Boden unter den Füssen sowohl für meinen persönlichen Weg als auch für meine politische Haltung rund um das Thema der Reproduktion.

Welches war für Dich persönlich der bewegendste Moment im Film, welcher ging Dir besonders nah?

Es war wohl die Begegnung mit Anne, die selbst einer Samenspende entstammt, dieser Reproduktionspraxis aber – zumindest in der Form, wie sie heute häufig praktiziert wird – kritisch gegenübersteht. Diese Begegnung ging mir nicht zuletzt deswegen unter die Haut, weil ich Anne implizit in die Rolle meiner Tochter in 20 bis 30 Jahren imaginiert habe. Die Transparenz, mit der ich meine Tochter von Klein auf in ihre Entstehungsgeschichte einweihe, gibt mir keine Garantie dafür, dass sie meinen Weg als Erwachsene gutheissen wird. 


Wie beobachtest Du die aktuelle Debatte rund um die Samenspende hier in der Schweiz, gerade auch in Bezug auf die Ehe für alle?

Die Einführung eines Spenderregisters (seit 2019) ist ein wichtiges Zugeständnis an Spenderkinder und ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu Normalisierung der assistierten Reproduktion. Die Tatsache allerdings, dass der Zugang zu Samenspende in der Schweiz ausschliesslich den heterosexuellen (verheirateten!) Paaren vorbehalten ist, ist im Jahre 2021 schlicht nicht zu fassen. Die politische Debatte, die eigentlich die Realität einer Gesellschaft abbilden sollte, wurde von der Realität längst überholt. Aber hey, über ethisch-moralische Vor- und Nachteile verschiedener Familienmodelle können wir nur dann ernsthaft sprechen, wenn wir die Gleichstellung aller Gesprechsteilnehmer*innen – auch ausserhalb der heterosexuellen cis Mehrheit – gewährleistet haben! 


Aus meiner Sicht findet derzeit ein rasanter Wandel statt in Bezug auf die verschiedenen Familienkonstellationen, welche Du auch im Film aufzeigst: Wie nimmst Du das persönlich wahr?

Auch ich nehme ihre Sichtbarkeit wahr und das gibt mir Hoffnung, dass der zunehmend selbstbewusste Umgang von nicht normativen Familien mit ihren Lebens-, Beziehungs- und Elternschaftsformen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft bald auch politisch und rechtlich Früchte trägt. 


Die Gesetze hinken ja diesbezüglich enorm den Lebensrealitäten 
hinterher: Was müsste aus deiner Sicht auf gesetzlicher Ebene noch geschehen um etwa auch Dir und deiner Familie das Leben zu vereinfachen?
Ich denke, die Antwort auf diese Frage ist sehr einfach: Unsere Gesellschaft produziert und reproduziert Ungleichheiten – sei es in Sachen Genderidentität, sei es in Hinblick auf Herkunft und Klasse. Was meine und unsere Situation betrifft, so habe ich als weisse, heterosexuelle cis Person mit einer unbefristeten Arbeitsstelle im akademischen Feld und dem damit einhergehenden gesicherten Einkommen ein bereits sehr leichtes und privilegiertes Leben.

Genre:
Dokumentarfilm, LGBTI+

Laufzeit:
82 Minuten

Regie:
Marina Belobrovaja

Kinostart:
27. Mai 2021

Inhalt:
Ausgehend von ihrer eigenen Lebensrealität thematisiert Filmemacherin Marina Belobrovaja die verschiedenen Wirklichkeiten und Facetten rund um das Thema Familie. Dabei geht es ebenso um traditionelle Ansichten wie gesellschaftliche Zwänge und Rollenmuster, welche auch hierzulande längst nicht mehr der Realität entsprechen, auch wenn die Gesetze diesbezüglich längst ins Hintertreffen geraten sind. Sie beleuchtet dabei Themen wie die Samenspende, aber auch Leihmutterschaft, und zwar aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln: Von Eltern, Spendern bis hin zu den Kindern.